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S c h w e r p u n k t




          Alles nur Zufall?
          Bezeichnend für die Weltsicht des Königs ist, dass die sta-
          tistische Verteilung der Augensummen, d.h. deren unter-
          schiedliche Häufigkeit, die rationale Grundlage der meis-
          ten der 12 Spiele bildet. Das reine Glücksspiel um eine hö-
          here oder niedrigere Augenzahl empfand der auch in der
          Astrologie bewanderte Alfons als reizlos, da er der Über-
          zeugung war, dass sich das, was uns als Zufall begegnet,
          mit ausreichender Kenntnis berechnen lässt.
          Die vollständige Behandlung der möglichen Kombinatio-
          nen und der Anzahl ihrer Permutationen beim Spiel mit
          drei Würfeln ist zum ersten Mal in dem als Gedicht des
          Ovid  ausgegebenen,  in  Frankreich  verfassten  Werk  De
          Vetula («Die Vettel») aus der Mitte des 13. Jahrhunderts
          überliefert. Der unbekannte Autor zeigt darin nicht nur,
          dass beim Spiel mit drei sechsseitigen Würfeln die Augen-
          summen von 3 bis 18 durch 56 Kombinationen zustande
          kommen können. Er weist auch nach, dass für die Wahr-                                   Bildquelle: Ulrich Schädler
          scheinlichkeit, mit der eine bestimmte Augensumme zu er-
          warten ist, die Zahl der Fälle, wie eine bestimmte Augen-  der vier niedrigsten (3, 4, 5, 6) bzw. höchsten (15, 16, 17,
          summe zustande kommt, ausschlaggebend ist. So kommt   18) Augensummen. Alle anderen Summen (7-14) gelten
          z.B.  die  Augensumme  4  in  nur  einer  Kombination  vor,   als «suerte» (im heutigen Craps als «point» bezeichnet).
          nämlich 1-1-2, aber in drei Permutationen: 1-1-2, 1-2-1, 2-  Das Verhältnis von «azares» zu «suertes» ist also genau
          1-1. Die Summe 15 kommt insgesamt zehnmal vor: 5-5-5   8:8. Demnach galten 14 von 56 Kombinationen, also ge-
          auf eine Art, 6-6-3 auf drei verschiedene Arten und 6-5-4   nau ein Viertel, und 40 von 216 Würfen, das ist weniger
          auf sechs. Insgesamt gibt es 216 verschiedene Fälle.   als ein Fünftel, als «azar». Erzielt er ein Ergebnis von 7 bis
                                                               14 Augen, gilt dieses als «point» (suerte) des Gegenspie-
           Augensummen       Kombinationen       Fälle         lers und derselbe Spieler würfelt noch einmal. Kommt nun
                                                               ein «reazar» zustande, verliert er, während eine der mittle-
              3     18             1               1           ren Augensummen als «point» für ihn selbst zählt. Handelt
                                                               es  sich  um  die  gleiche  Augensumme,  die  bereits  als
              4     17             1               3           «point» des Gegenspielers feststeht, muss das Spiel von
                                                               vorn  begonnen  werden.  Nun  würfeln  beide  Spieler  ab-
              5     16             2               6           wechselnd,  und  der  Spieler,  dessen  «point»  wiederholt

              6     15             3              10           wird, gewinnt.
                                                               Ganz ähnlich wird Guirgiesca (frz. «la griesche») gespielt,
              7     14             4              15           das letzte Spiel mit sechsseitigen Würfeln in Alfons’ Wür-
                                                               felkapitel, aber mit nur zwei Würfeln, wie das moderne
              8     13             5              21           Craps.
              9     12             6              25           «Entweder lästere die Götter oder höre auf zu spielen!»,
                                                               fasste der De Vetula-Autor seinen Abschnitt über die Wür-
              10    11             6              27           felspiele zusammen. Für Alfons dagegen war das Bere-
                                                               chenbare des Zufalls Ausdruck von Gottes Schöpfung. 

          Die Wahrscheinlichkeit, mit drei Würfeln eine 15 zu erzie-
          len, beträgt also 10/216 und ist damit zehnmal so hoch wie   Informationen
          die Chance, eine 3 zu würfeln, die statistisch nur in einem
          (1-1-1) von 216 Fällen vorkommt. Und genau das ist es,   U. Schädler / R. Calvo, Alfons X. «der Weise», Das Buch der Spiele.
          was Alfons interessiert.                             Übersetzt und kommentiert von Ulrich Schädler und Ricardo Calvo,
                                                               Ludographie Band I, Lit-Verlag Berlin/Wien 2009.
          Was wird hier gespielt?                              U. Schädler, Organizing the Greed for Gain. Alfonso X of Spain’s Law
          Die  geschilderten  mathematischen  Grundlagen  erläutern   on Gambling Houses, in: Maya Burger, Philippe Bornet (Hrsg.),
          Alfons  und  seine  Mitarbeiter  anhand  des  ersten  Spiels   Religions in Play: Games, Chance and Virtual Worlds. Pano, Zürich
          «Triga»,  wenn  auch  nicht  so  ausführlich  wie  in  «De   2012, S. 23-47.
          Vetula». Am bekanntesten und verbreitetsten war aber das   P. Klopsch, Pseudo-Ovidius, De Vetula. Untersuchungen und Text,
          «Azar»  (von arab.  «az-zahr»:  der  Würfel;  frz.  «hasart»,   Leiden/Köln 1967
          später «hasard»).                                    Th. Bronder, Mittelalterliche Würfelspiele mit Einsatz und Gewinn,
          Zwei Spieler würfeln mit drei Würfeln. Der Anfangsspie-  Board Game Studies Journal 12, 2018, S. 1-27.
          ler gewinnt sofort, wenn er einen «azar» würfelt, d.h. eine



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