Page 59 - Magazin Schweizerischer Dachverband für Spiel und Kommunikation
P. 59
Spielinfo Wissen
Spielen mit und in der Fiktion Häufiger noch thematisieren Kinderbücher
aber das Spielen. Das freie, unbeschwerte
Spiel und Literatur ahmen auf ihre Spiel ist dabei Kindern vorbehalten und
Weisen menschliche Handlungen steht als Metapher für die Kindheit.
nach. Dabei kann die Literatur – auch
für Kinder und Jugendliche – selbst ein
Spiel mit den Leserinnen treiben.
Text: GABRIELE VON GLASENAPP
Vom deutschen Soziologen Max Weber stammt diese Nachahmung realer menschlicher Hand-
die Theorie, dass sich die kulturellen Systeme lungen sehr sichtbar und konkret, aber ebenso
wie Politik, Wissenschaft, Religion ursprünglich auch abstrakt und verfremdend gestalten; je nach
aus spielerischen Verhaltensweisen entwickelt gewähltem Modus wäre dann von realistischen
und über Ritualisierungen im Laufe der Zeit in- oder non-realistischen Gattungen zu sprechen.
stitutionell verfestigt haben. Für die Moderne Dennoch spielt auch in den non-realistischen
werden diese beiden Parameter jedoch in einem Gattungen das mimetische, also das Nachah-
umgekehrten Verhältnis betrachtet, d.h. das mungsprinzip eine zentrale Rolle; die lediglich
Spiel wird in all seinen Ausprägungen als Nach- auf den ersten Blick nicht sichtbaren Realitätsbe-
ahmung menschlicher Handlungen angesehen. züge werden in diesen Fällen durch den Leser o-
Diese Nachahmung kann sehr konkreter, aber der die Leserin hergestellt. Denn nur, wenn die
ebenso auch abstrakter Natur sein und zwar ganz LeserInnen diese Bezüge herstellen können (also
gleich, ob das je spezifische Spiel strengen Re- das Nachahmungsprinzip implizit «sichtbar» ge-
geln unterliegt oder diese Regeln von den Akt- macht wird), ist eine identifikatorische Lektüre
euren ad hoc ausgehandelt werden, gleichgültig überhaupt möglich. Festgehalten werden kann
auch, ob es sich um Spiele mit Wettbewerbscha- damit, dass Spiel und literarische Werke in ihrer
rakter handelt oder nicht. Unabhängig von ihrem Nachahmung menschlicher Handlungen durch-
Abstraktionsgrad und unabhängig vom Vorhan- aus Berührungspunkte aufweisen. Um diese soll
densein von Regeln kann die Nachahmung es im Folgenden gehen.
menschlicher Handlungen als ein zentrales We-
sensmerkmal aller Spiele bezeichnet werden. Literatur spielt mit den Leserinnen
Abbildung und Nachahmung Literatur und Spiel weisen nicht nur deutliche
der Wirklichkeit Berührungspunkte auf, ihre starke Affinität ma-
nifestiert sich auch in der Tatsache, dass sie ei-
Versucht man sich in einem zweiten Schritt an nander gegenseitig thematisieren können -und
einer Definition von literarischen Kunstwerken das auch tun. Spiele können sich also durchaus
und befragt sie auf ihre zentralen Merkmale, mit (Kinder-und Jugend-)Literatur beschäftigen,
dann lässt sich bereits bei Platon und Aristoteles wie zum Beispiel literarische Quizveranstaltun-
nachlesen, dass Literatur ein genuin mimetischer gen oder aber das bei allen Altersgruppen zuneh-
Charakter inhärent sei. Das heisst, die Literatur mend populäre Cosplay -die Darstellung literari-
bildet durch Darstellung (im Drama) und Erzäh- scher Figuren im Rollenspiel -anschaulich unter
lung (im Epos) die ausserliterarische Welt im Beweis stellen. Eine weitaus grössere Bedeutung
weitesten Sinne ab. Anders formuliert: Auch die hat jedoch umgekehrt das Spiel für die Literatur
Literatur besteht zumindest teilweise aus der und zwar keineswegs nur auf inhaltlich-themati-
Nachahmung menschlicher Handlungen, die je scher Ebene, sondern in einem Ausmass, dass
nach Epochen und Gattungen höchst unter- fiktionalen Texten seit der Antike immer wieder
schiedlichen Charakter tragen. So kann sich ein genuin spielerischer Charakter zugeschrie-
ben worden ist. Nicht von ungefähr manifestiert
Spielinfo 1 / 2016 | 59