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Spielinfo Wissen

sich diese spielerische Eigenschaft häufig an den    den Protagonisten Matze schliesslich als unzu-
Nahtstellen zwischen Fiktion und Realität. Vor       verlässigen Erzähler entlarvt.
allem die realistische Literatur verfügt – um ih-
ren vorgeblich mimetischen Charakter zu beto-        Vorrecht der Kinder
nen – über ein ganzes Arsenal an erzählerischen
Verfahren, die die Wissenschaft unter den Be-        Das Erzählen von spielenden Akteuren hat in der
griff der Authentizitätsfiktion einordnet. Der       Kinder-und Jugendliteratur eine lange Tradition
spielerische Charakter dieser Authentizitätsfik-     und zwar sowohl in der Sach- als auch in der er-
tion wird nun darin deutlich, dass erfahrene Le-     zählenden Literatur. Dabei fällt auf, dass diese
serinnen diese Behauptungen als Fiktion, als         Darstellungen mehrheitlich an kindliche Akteure
Spiel, durchschauen – eine Tatsache, die dem         gebunden sind. Es spielen Kinder – Jugendliche
Autor oder der Autorin durchaus bewusst ist,         nur in Ausnahmefällen. Spiel wird damit zu et-
ohne dass er oder sie darum diese Behauptung         was genuin Kindlichem deklariert, für jugendli-
unterlässt. Es ist ein Spiel, was Text und Leserln   che Akteure hingegen scheint der Ernst des Le-
miteinander treiben, und als Spiel ist es auch ein-  bens bereits begonnen zu haben, da sie, wie Er-
deutig erkennbar.                                    wachsene, zumindest in der Literatur kaum Affi-
                                                     nität zum Spiel zeigen. Ein Blick in kinder- wie
Die Konventionen dieses Spiels lassen sich aber      jugendliterarische Schlüsseltexte der letzten
auch umkehren, z.B. wenn ein Text explizit auf       Jahrzehnte scheint diese Behauptung zu bestäti-
seinen fiktionalen Charakter aufmerksam macht        gen. Zu den populärsten Genres der Kinderlite-
und den Leser dadurch irritiert: eine Form des       ratur zählen die Freundschafts- oder Bandenge-
Spiels, die die Wissenschaft Metafiktion nennt       schichten. Eine Gruppe von Kindern findet sich
und die mittlerweile auch in der Kinder- und Ju-     zusammen, unternimmt etwas gemeinsam. Viele
gendliteratur keine Seltenheit mehr ist, wie das     dieser gemeinsamen Unternehmungen bestehen
Bilderbuch «Mammuts, Monster, Marsmen-               in eigentlich kinderunspezifischen Aktionen: Ein
schen und meine kleine Schwestern» von Alex          Grossteil dieser Kinderbanden betätigt sich näm-
Cousseau und Nathalie Choux anschaulich unter        lich im weitesten Sinne als Detektive, d.h. die
Beweis stellt. Dort erklärt der Mammutvater          kindlichen Akteure spielen Detektive – die sie ei-
dem Mammutkind, dass es Mammuts gar nicht            gentlich ja nicht sind – und erst Kraft dieses
gebe und auch sie beide daher nur der Fantasie       Spiels können die Verbrechen überhaupt aufge-
einer Bilderbuchzeichnerin entsprungen seien.        klärt werden. Auffällig ist, dass die Akteure in
                                                     diesen Geschichten stets ältere Kinder sind, die
Eine weitere sehr prominente Variante betrifft       an der Grenze zum Jugendalter stehen und dass
die Sachverhalte, die den Leserinnen übermittelt     die Mehrheit auch in diesem Status verharrt,
werden. Was immer Erzähler in literarischen          nicht älter wird, keine Entwicklung vollzieht,
Texten berichten, man glaubt es ihnen – zu-          also immer «spielendes» Kind bleibt.
nächst. Aber was, wenn gerade mit dieser Glaub-
würdigkeit ein Spiel getrieben wird, wenn Er-        Beerdigung spielen
zähler also unzuverlässig sind, ihre Leserlnnen
anlügen, sie in ihrer Kohärenzbildung irritieren?    Auch in den hier betrachteten Einzelwerken sind
Anders als in der Realität, wo man bestrebt ist,     es mehrheitlich Kinder, die sich dem Spiel hin-
seine Unzuverlässigkeit und Lügen nach Mög-          geben. Zum Beispiel im preisgekrönten schwe-
lichkeit zu verbergen, entfalten die beschriebe-     dischen Bilderbuch «Die besten Beerdigungen
nen Verfahren in der Literatur, und auch in der      der Welt» von Ulf Nilsson und Eva Eriksson. Be-
Kinder- und Jugendliteratur, ihren spielerischen     reits der im Titel verwendete Superlativ verweist
Charakter bzw. ihr ästhetisches Potenzial erst       auf Unerhörtes, ja Unvereinbares: Das Nomen
durch ihre Entdeckung. Erst die Aufdeckung der       Beerdigung wird für gewöhnlich nicht mit dem
Unzuverlässigkeit durch die Lektüre eröffnet das     Adjektiv «gut» (in gesteigerter Form) in Zusam-
Spiel. In dem Bilderbuch «Besuch bei Oma» von        menhang gebracht. Aber in dem vorliegenden
Andrea Hensgen und Joëlle Tourlonias etwa
stimmen Text- und Bildebene nicht überein, was

                                                     Spielinfo 1 / 2016 | 60
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